Stefan Eigenmann über Liebeslügen und Sexmythen

"I love you" is a lie.Liebeslügen und Sexmythen
 

„Sie müssen es ja wissen“, kriege ich manchmal zu hören. „Sie leben bestimmt in einer harmonischen Beziehung. Als Paarberater haben Sie schliesslich eine Ahnung davon, wie Liebe und Leidenschaft in einer dauerhaften Beziehung zusammen funktionieren.“

In Zwickmühle geraten
Diese Worte bringen mich in eine Zwickmühle. Liesse ich mich nämlich dazu hinreissen, souverän ein „Ja klar, ich habe alles im Griff!“ auszustrahlen, dann müsste ich damit rechnen, dass mein innerer Pfau ein grosses Rad schlüge und mir zuflüsterte: „Du bist ein toller Typ.“ Das könnte ich aber kaum geniessen, weil ich damit mein Gegenüber beschämen würde. Berater aber, die bewundert werden wollen und die Leute beschämen (was vorkommt), sind schlechte Berater, und die müssten ihr Honorar senken (was nicht vorkommt). Signalisierte ich anderseits ein „Leider nein“, dann wäre zu befürchten, dass sich die Leute enttäuscht von mir abwendeten. Dann würde mein innerer Kritiker posaunen: „Spinnst du? Wer vertraut schon einem Paarberater, der selber eine lausige Ehe führt!“ Ich sitze als wirklich in der Patsche.

Kollektive Sehnsucht
Vielen Frauen und Männer teilen eine kollektive Sehnsucht: „Mögen wir uns doch ewig lieben und selbst nach vielen Jahren Ehe und Partnerschaft noch leidenschaftlichen Sex zusammen erleben.“ Aber, hat denn kläglich versagt, wer das trotz Beratung und hundert Folgen Sex in the City nicht schafft? Ich frage Sie rhetorisch: Haben wir es nicht viel mehr mit einer romantischen Verklärung zu tun, einem Mythos gar? Ich meine, sexuelles Begehren braucht auch Abstand zum Gewohnten und Sicheren. Allzu grosse Intimität und Vertrautheit wirkt sich dämpfend auf unser Verlangen aus. Und, zu behaupten, Liebe und Sexualität seien untrennbar miteinander verbunden, ist eine Lüge. Das würde ja heissen, dass sich auch begehrt, wer sich liebt. Oder, etwas deutlicher: Wer den Partner nicht begehrt, liebt ihn nicht.

Es ist einfach nur menschlich, wenn Sie nach vielen Jahren Beziehung nicht mehr rattenscharf auf Ihren Partner sind. Und sich für einen Moment vorzustellen, wie lustvoll es sein könnte, mit der neuen Arbeitskollegin ins Bett zu steigen, ist nicht verkehrt. Deswegen können Sie Ihre Partnerin trotzdem lieben. Nehmen wir aber einmal an, es gibt sie, die Paare, die sich auch nach Jahrzehnten des Zusammenlebens noch innig lieben und immer noch (oder endlich) geilen Sex miteinander haben. Muss sich dahinter zwingend und in jedem Fall eine tiefere Wahrheit verbergen? Muss sich schämen, wem das nicht gelingt? Ich meine nein. Es kann sich durchaus auch um ein Geschenk des Lebens handeln. Also um etwas, was wir nicht machen können. So nach dem Motto: Was den einen vergönnt ist, bleibt den anderen verwehrt?

Illusionäre Glaubenssätze
Liebeslügen und Sexmythen kritisch zu erforschen, um illusionären Glaubenssätzen auf die Schliche zu kommen, ist ein Wagnis. Wer sich unliebsamen Wahrheiten offen zuwendet, muss mit Kränkung rechnen. Und darauf hat Ihr Ego null Bock. Glauben Sie aber nicht, Sie hätten allein schon deshalb versagt, nur weil Ihr Begehren mit den Jahren nachlässt. Lassen Sie sich nicht beschämen, weder von Paarberatern noch von Ihren Nachbarn. Es gibt keinen Grund, sich für einen besseren oder schlechteren Menschen zu halten, egal wie viel Lust Sie verspüren.

(Photo: 'All it takes is a lie' by 3azeez.)


Stefan Eigenmann Stefan Eigenmann, geb. 1960, in 2. Ehe verheiratet, arbeitet in Bülach (CH) seit 2003 freiberuflich als Einzel-, Paar- und Sexualberater. In seiner 'Werkstatt für Kontakt & Dialog' begleitet er Einzelne, Paare, Familien und Gruppen in Krisen- und Konfliktsituationen sowie in Entwicklungs- und Veränderungsprozessen. Mehr auf Kontaktdialog.ch

Seine Kolumnen die ab  2007 im 'Tages-Anzeiger' (Zürcher Unterland) erschienen, wurden im Januar 2012 in seinem Stefan's erstem Buch 'Liebe, Lust und Stolpersteine' beim C.F.Portmann-Verlag in Erlenbach veröffentlicht.