Die letzte Bergtour (Kurzgeschichte)

Monday, 13 October 2014

Berge. Wanderer. Wandern.Dominic Köppel’s beklemmende Kurzgeschichte 'Bergtour'
 

Der Himmel war stahlblau. Der Morgen hatte erst begonnen, obwohl wir schon seit über einer Stunde zu Fuß unterwegs waren und immer weiter in die Höhe vordrangen. Wir waren früh aufgebrochen, als es noch stockfinster war, doch die Wege hier oben waren ausgezeichnet ausgeschildert. Die Luft war eisig kühl und brannte beim Atmen ein wenig in den Nasengängen. Jedoch von herrlicher Reinheit.

Wir trugen beide dicke Jacken und festes Schuhwerk. Heinz trug dazu noch lange Hosen, was ich mir erspart hatte. Wir wollten eine zweitägige Bergtour machen und mir war nicht danach unnötige Ballast herumzuschleppen. Es würde für meinen mageren und untrainierten Körper schon anstrengend genug werden. Abgesehen davon, dass mich das Ganze hier so was von ankotzte, dass es jeder Beschreibung spottete.

"Mach doch, immerhin ist er dein Chef." Hatte meine Freundin Rebecca gesagt. Recht hatte sie. Er war mein Chef und dazu noch was für ein Kotzbrocken. Außerdem verstand ich nicht, warum dieser Idiot immer irgendetwas mit mir unternehmen wollte. Aus unerfindlichen Gründen schien ich ihm sympathisch zu sein. Das beruhte nicht auf Gegenseitigkeit, was jedoch außerhalb seiner Vorstellungskraft zu liegen schien. Das irgend jemand Heinz Dellenberg nicht mochte, oder gar hasste war eine Entsetzlichkeit, welche in seinem von Selbstherrlichkeit geprägten Denken nicht existierte.

Vielleicht hatte Rebecca gemeint, dass ich mich mit dieser Tour bei diesem Hampelmann beliebt machen und so zu einer Beförderung kommen würde. Nur war das Problem dabei, dass ich, selbst wenn es irgendwann darauf hinauslaufen würde, nicht an einer Beförderung interessiert war und trotzdem hier war. Ich hatte mir wieder einmal von ihr Honig um den Mund schmieren lassen und würde lernen müssen mich ihr gegenüber besser durchzusetzen und nicht nachzugeben, wie es meist der Fall war.

Wahrscheinlich tat ich es, um endlosen und quälend langweiligen Diskussionen und Nörgeleien aus dem Weg zu gehen, bei denen ich ohnehin von Anfang an keinerlei Chancen hatte als Sieger daraus hervor zu gehen. Wenn sie wüsste wie sich der nette Heinz den Frauen ganz im allgemeinen und jenen im Büro gegenüber im speziellen verhält, hätte sie mich sicher nicht dazu ermutigt. Dann hätte sie bei einer Begegnung mit Chefchen Heinz höchstens einen Eiertritt für ihn übrig gehabt.

Die Kiefern hatten eine stattliche Größe und kräftige Stämme, trotz der hier im Winter sicherlich sehr harten klimatischen Bedingungen. Der Weg war gerade so breit, dass zwei Personen bequem nebeneinander gehen konnten. Eben ein richtiger Wanderweg. Sogar das Fahrradfahren war durch ein Verbotsschild zu Beginn untersagt worden. Es war davon auszugehen, dass sich der Weg weiter oben in einen schmalen Trampelpfad verwandeln würde, auf welchem man nur noch hintereinander gehen konnte. Alleine hätte man das hier wirklich genießen können.

Die Natur, die Ruhe, das alleine sein. Heinz hatte mir vor dem Wochenende eine Broschüre des Tourismuscenters der Region und einige Karten in die Hand gedrückt; mir mit seinem breiten Grinsen auf die Schulter geklopft und mich behandelt, wie man es mit einem guten Freund tat. Oder einem Kleinkind. Ich wusste wirklich nicht was der Mann von mir wollte. Nur weil wir zusammen arbeiteten war das noch lange kein Grund für solches Verhalten.

Die Broschüren hatte ich postwendend aus Trotz und Wut in die Tonne mit dem Altpapier geschmissen und gehofft, dass er der Nächste sein würde der die Tonne benutzte und sie dort liegen sehen würde. Doch er war intensivst damit beschäftigt eine siebzehn Jahre alte Praktikantin anzubaggern. Die beiden standen vor dem Kaffeeautomaten und das durchaus attraktive Mädchen im schwarzen Rock und der dunkelgrünen Bluse lachte dem großen Meister artig entgegen, während dieser seine betriebsintern bestens bekannten Reden schwang. Was hätte das Mädchen in ihrer Lage auch anderes tun sollen als zuzuhören, zu lächeln und zustimmend zu nicken?!

Er ging ganz in seinem Element auf, schwafelte, hielt sich für irrsinnig unterhaltsam und witzig und klebte mit seinen Stielaugen abwechselnd an ihren Brüsten und dem Hintern fest und kehrte dann, des Scheins wegen, gelegentlich wieder zu ihrem Gesicht zurück. Bevor ich mit ansehen musste, dass er ihr einen Klaps auf den Hintern gab, was er bei seiner Sekretärin pflegte zu tun, ging ich in die Mittagspause, um nicht noch wirklich die Beherrschung zu verlieren und kotzen zu müssen oder ihm einmal die Meinung zu geigen, was mich höchstwahrscheinlich zu unrecht auch noch die Stellung gekostet hätte.

Der Pfad verengte sich nach einer Weggabelung wie vorhergesehen. Heinz ging voraus. Er sagte er kenne den Weg, sei hier schon einige Male hoch, wäre ja keine besonders anspruchsvolle Route. Er schenkte mir sein Grinsen und ging weiter, während er seinen Arsch genau auf der Höhe meiner Augen hin und her schwang, der in viel zu eng anliegenden und zu kurzen Trekkinghosen steckte. Mir kam die Galle hoch, doch ich versuchte mich am Riemen zu reißen. Wenn sich meine Wut weiter so steigern würde wie bis anhin, würde ich ihm noch vor erreichen der Berghütte den Schädel mit einem der schönen Schiefersteine eingeschlagen haben. Vor allem aber wollte ich wieder nach hause kommen ohne ausgebrochenem Magengeschwür oder geplatztem Kopf.

Der Wald wurde lichter und gab immer wieder atemberaubende Ausblicke auf das Tal und auf Dutzende der umliegenden Berge frei, welche majestätisch in den Himmel ragten und der Zeit trotzten. Die Steigung wurde immer heftiger und mir wurde langsam heiß, obwohl die Luft eigentlich noch immer angenehm kühl war. Schon bald würde ich die Jacke ausziehen und auf den Rucksack schnüren müssen, der mir ebenfalls schon auf den Wecker ging, da er mir mit den Tragegurten in die Schultern einschnitt und die Muskeln dort zu schmerzen begannen. Ich ahnte für den nächsten Tag einen solchen Muskelkater herbei, dass ich es kaum noch schaffen würde mich aus dem mit Milben und Schweiß verseuchten Bett der Berghütte zu erheben. Alles hatte eben seinen Preis. Nichtgewolltes Arschlecken einen besonders hohen.

Zwischen den Tannen zu unserer Rechten waren Ziegen zu sehen. Wir sahen zu ihnen herüber, blieben aber nicht stehen. Sie starrten uns wahrscheinlich fast so doof an wie wir sie. Einige hielten sogar mit dem Kauen inne. Heinz lachte schallend über die glotzenden Ziegen und bemerkte in seiner maßlosen Blödheit nicht, dass wir genau das Selbe taten. Das Lachen riss abrupt ab, als er über einen der runden Holzstämme stolperte, die zur Befestigung des Weges talwärts angebracht waren. Der Pfad hatte kaum massives Gestein unter sich, wurde regelrecht in den Abhang hineingeklebt und die Kanten zur Talseite mussten somit von den Balken gestützt werden.

Während er sich über die ihm intellektuell um Längen überlegenen Ziegen lustig gemacht hatte, war er offensichtlich von der Mitte des Pfades abgekommen, so dass er über die Stütze stolperte. Wäre da noch ein Baum oder überhaupt irgendetwas in greifbarer Nähe gewesen, hätte er sich noch daran festhalten können, doch er stürzte haltlos und der Abhang war so steil, dass nur noch einige wenige kümmerlich wirkende Bäume genügend Halt und Nahrung zum überleben fanden.

Und so stürzte Heinz Dellenbach über den Rand des schützenden Pfades hinunter in die Tiefe. Sein Lachen riss ab und ging beinahe ohne Unterbruch in ein Geschrei, mit Untermischung einiger anderer Laute, über. Das rollen von Steinen, das loslösen des lockeren und vor allem äußerst steinigen Bodens durchbrach die Stille der Kulisse. Ich schrie seinen Namen; wozu auch immer. Eine Reaktion der Überraschung und des Schreckens, mehr sicherlich nicht. Heinz rollte den Abhang hinunter wie eine unförmige Kanonenkugel. Er gewann ganz gewaltig an Schwung und verfehlte gekonnt jeden der wenigen Bäume, welche ihn hätten, wenn auch unsanft, bremsen können.

Ich konnte mir gut vorstellen, dass er keinerlei Möglichkeiten hatte auf den freien Fall Einfluss zu nehmen. Womöglich hatte er sich auch bereits beim Sturz über den Rand des Weges einiges verstaucht oder gebrochen. Ein Schuh flog in hohem Bogen hinfort und auch sein Rucksack war aufgegangen oder gerissen. Einige in Alufolie eingepackten belegten Brote und andere Lebensmittel flogen durch die Gegend, eine Getränkeflasche knallte gegen einen Felsbrocken. Seine knallrote Thermoskanne war ein farblicher Kontrast in dem ganzen staubigen Getöse.

In mir stieg ein fast nicht zu bändigendes Lachen auf. Mein Mund verwandelte sich in ein clownsbreites Grinsen, so dass meine Lippen durch die Anspannung und den Versuch es zu unterdrücken schmerzten. Es gelang mir jedoch keinen Ton herauszulassen. Schliesslich hätte mich jemand beobachten können. Dann würde am Ende noch davon ausgegangen werden, dass ich nachgeholfen hätte. Es war wirklich kaum zu fassen: Ich wünschte ihm eben noch den Tod an den Hals und da stürzt das Heinzchen ganz ohne mein Zutun den Berg hinunter. Sachen gibt es manchmal… Da bleibt einem doch glatt die Spucke weg. Schade, dass die Ziegen nicht lachen konnten. Oder vielleicht taten sie es ja auf ihre eigene Weise.

Einige der Überschläge sahen so brutal aus, dass ich auf die Zähne biss und die Augen zusammenkniff; doch wegsehen konnte ich dennoch nicht. Dafür war ich viel zu gebannt. Es hätte auch nichts daran geändert. Der sicherlich schwer ramponierte Heinz blieb auf einer etwa vierzig oder fünfzig Meter tiefer liegenden Schleife des Pfades liegen. Über eben jene Stelle wo nun der Körper zum erliegen kam, waren wir eben noch gegangen. Ein paar Minuten waren seither verstrichen, mehr nicht. Der Weg hatte von dort unten eine starke Kurve nach links genommen und war dann parallel zum unteren Stück in entgegengesetzte Richtung verlaufen.

Über den Abhang war der untere Teil des Pfades keines Falls zu erreichen, auch bei grösster Vorsicht nicht. Er war so steil, dass man sich hätte abseilen müssen. Nein, ich eilte ganz einfach den Pfad wieder hinunter, stolperte selbst vor Aufregung noch über einige spitze Steine, die aus der Erde ragten und hielt auf den am Boden liegenden Körper zu. Es gelang mir beim Gehen nicht herauszufinden, ob er sich bewegte, aber wohl eher nicht. Der Rucksack hing zwar noch halbwegs an einem Arm, war jedoch zerrissen und schmutzig und vom Volumen her, welches er jetzt noch besaß, musste das Meiste des Inhalts verloren gegangen sein. Die gesamte Kleidung war schmutzig und an diversen Stellen ebenfalls zerfetzt. Ein Bein, welches nicht mehr von der ramponierten Hose bedeckt wurde, war mit Schrammen und Kratzern übersäht. Einige Stellen daran waren blutverschmiert. Der Oberkörper war von der Jacke bedeckt, dessen Kapuze sich während des Falls über den Kopf geschlagen hatte und diesen nun bedeckte.

Ich trat näher und fasste Heinz an, sprach seinen Namen aus und drehte ihn auf den Rücken. Ein leises Stöhnen war zu hören und Augen sahen mich aus schmalen Schlitzen heraus an. An den Händen, auf welchen er gelegen hatte, waren einige Fingernägel abgerissen. Zwei Finger der rechten Hand waren so abartig verdreht, dass sich das Frühstück in meinem Magen bemerkbar machte und zu rebellieren begann. Der linke Arm wies eine ebenso seltsame Haltung auf und hatte offensichtlich schwerst gelitten. Das Haar war zerzaust und staubig. An der Stirn war eine kleine Platzwunde, aus der Nase rann etwas Blut, die Lippen waren an zwei Stellen geplatzt und alles war mit Kratzern und kleinen Schnitten übersäht. Der Schädel selbst schien allerdings auf den ersten Blick nichts abbekommen zu haben. Ich konnte es mir zwar kaum vorstellen, aber so wie es aussah hatte der Mann einmal mehr ein riesiges Glück gehabt. Glück hatten wohl meist die falschen. Sicher waren diverse Knochen gebrochen, eine Gehirnerschütterung würde wohl auch dabei sein und sein Gesicht sah aus wie ein Friedhof kurz vor der Schließung. Aber wenn das alles sein würde und keine Organe ernsthaft beschädigt waren oder eine Hirnblutung im Gange war, wäre es bei all den Überschlägen, dem enormen Gefälle des Abhangs und dem steinigen Untergrund wahrlich ein Wunder.

Ich ging um ihn herum. Mein Herz ging schnell, es raste nicht gerade, arbeitete aber spürbar auf Hochtouren. Ich musste mich konzentrieren, um nicht das Gleichgewicht auch noch zu verlieren, während ich mich auf den Stützbalken, der genau so aussah wie jener weiter oben, an dem verbeulten Heinz vorbei manövrierte. An seiner Kopfseite angelangt konnte ich sehen, dass sein Schädel bis auf das Gesicht äußerlich wirklich nichts abbekommen hatte. Er beobachtete mich mit seinen Augen. Das Sprechen schien ihm schwer zu fallen. Immer wieder presste sich ein Stöhnen aus den Tiefen seines Körpers hervor. Zweimal nannte er meinen Namen und sah mich flehend an, während er immer wieder auf seine Brust deutete. Ich ging davon aus, dass er schmerzen am Herzen oder den Lungen hatte, vielleicht auch welche weiter unten an einem der anderen Organe.

Ich setzte mich mit ein wenig Entfernung auf einen Felsvorsprung, der bergseitig aus dem Hügel ragte und kramte in meinem Rucksack. Die Zigarette schmeckte ausgezeichnet, war eine richtige Erleichterung nach der ganzen Aufregung. Einen Ausblick auf den Talkessel oder die Berge hatte man von dieser Stelle nicht, aber das musste auch nicht unbedingt sein. Das Stöhnen wurde immer lauter, gepresster, flehender. Meinen Namen sprach er nicht mehr aus, dazu fehlte ihm wohl die Kraft. Schließlich wandelte sich das Stöhnen in ein Röcheln, welches mir nach ein oder zwei Minuten anfing so gewaltig auf den Wecker zu gehen, dass ich mir schon überlegte irgendetwas zu unternehmen. Ich ließ es dann aber doch bleiben.

Allmählich wurde es immer wärmer. Ich entledigte mich der Jacke, legte sie ordentlich zusammen und band sie mit den Halteriemen oben auf den Rucksack. Meine ungesund aussehende weiße Haut wirkte noch fahler in dem von den Bäumen abgeschwächten Tageslicht, das sanft den Tag begrüsste. Ich kratzte mich gleichzeitig an beiden Unterarmen, es biss höllisch. Vielleicht war sich meine Haut die frische Bergluft nicht gewohnt. Ich musste lachen beim Gedanken daran. Die Zigarette neigte sich dem Ende zu, genau wie Heinz' Leben.

Er hechelte nun wie ein Presslufthammer kurz vor der Explosion, nur nicht ganz so laut. Dann hörte das Hecheln auf, die Augen erstarrten, der Kopf kippte zur Seite. Er war tot und die Geräusche der Natur kehrten zurück. Die Vögel pfiffen nach allen Regeln der Kunst und die Steine knirschten unter meinen Sohlen, als ich den Pfad wieder talwärts schlenderte. Es war ein schöner Tag für eine Wanderung, da hatte er schon recht gehabt.

© Dominic Köppel

Dominic Köppel kann hier per email kontaktiert werden: friendship.md@hotmail.com

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